Wer übernimmt die Nachfolge? Jahrhundertelang gab es darauf eine selbstverständliche Antwort: Der älteste Sohn führte das fort, was Vater und Großvater aufgebaut hatten. Und wenn er ausfiel, war es der Zweitälteste, der Jüngste oder ein Schwiegersohn. Die Töchter gründeten derweil Familien.
Bringt Corona nun neuen Schwung in diese tradierte Sichtweise?
Johanna F. bringt ihre Kinder in den Kindergarten. Dann fährt sie in das familieneigene
Unternehmen, in dem sie die Marketingabteilung leitet. Sie möchte mehr Führungsverantwortung übernehmen und sieht neue Chancen am Markt. Diese Ideen will
sie gleich im Morgenmeeting mit ihrem Vater, dem Gründer des Unternehmens, und ihrem Bruder vorstellen. Doch stattdessen teilt ihr Vater beiden aus heiterem Himmel mit, dass er erschöpft ist von all den Corona-bedingten Entwicklungen und der Unplanbarkeit der Zukunft. Er will aufhören. Sein Sohn, der geplante Nachfolger, möchte unter den gegebenen Umständen aber nicht übernehmen. Der Vater entscheidet daher: “Das ist das Ende für unseren Traditionsbetrieb!“ Johanna sieht ihren Vater entsetzt an. Warum wird sie nicht gefragt?
Es geht auch mit der Tochter!
Seit Jahrhunderten gibt es eine tradierte “logische Abfolge”: Das Familienunternehmen wird vom Vater an den Sohn übergeben. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann ein langsamer Wandel, der andere Möglichkeiten breiter ins Spiel brachte, etwa
die Weitergabe an die Ehefrau. Das eröffnet uns heute immer häufiger eine neue Option:
Es geht auch mit der Tochter!
Manche Töchter können sich dabei ein Leben lang vorbereiten, weil die Familie keine
Söhne und keine Vorurteile hat. Viele hingegen werden durch Zufall und mitunter sehr
plötzlich zur Nachfolgerin, weil die Söhne ebenfalls aus der Tradition ausbrechen. Die Gründe sind so vielfältig wie das Leben. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: ein Sohn erweist sich als spielsüchtig, ein anderer überwirft sich nach seinem Coming-Out mit seinem Vater, ein weiterer heiratet nach Kanada; und in einer Familie mit fünf Kindern
teilen alle vier Söhne den Eltern nacheinander mit, dass sie andere Pläne haben – nur die
Tochter bleibt übrig und übernimmt.
Von der Entwicklung überrascht – und nun?
Wenn sich beinahe über Nacht die Nachfolgepläne ändern, eröffnet das große Chancen für weibliche Führung. Die “Generation Töchter in der Nachfolge” hat es schon in die Schlagzeilen geschafft – aber nun kommt es zum spannenden Spagat, denn wie gelingt es diesen Frauen, ihre zuvor gefassten Lebenspläne neu zu ordnen und Aufgaben zu übernehmen, auf die sie sich nicht eingehend vorbereiten konnten?
Tanya D. hat 2012 nach einem Herzinfarkt ihres Vaters das Familienunternehmen übernommen. Von einem Moment auf den anderen hatte ihr Tag plötzlich 36 Stunden …
Aufgaben stürzten überfallartig auf sie ein, denn bisher liefen alle Fäden in den Händen
des Vaters zusammen, dabei leider auch viel spezielles Insiderwissen. Er, der Firmengründer, hatte die Kontrolle über alle Vorgänge, traf alle Entscheidungen, war der Patriarch. Tanya D. hat bisher in einem anderen Unternehmen gearbeitet und vertritt
einen ganz anderen Führungsstil: arbeitsteilig, mit klaren Verantwortungs- und Entscheidungsbereichen, mit Teamabsprachen und Zeit zum Abwägen. Und dann war da
noch ihr Privatleben, für das sie früher einen “Feierabend” zur Verfügung hatte … von der
Familienplanung ganz zu schweigen. Ihr Vater war nun ein Pflegefall, die Mutter auch
nicht mehr die Jüngste. Tanya D. hatte in dieser Phase das Gefühl einer großen
Überforderung – und bald die Gewissheit, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Sie
musste ihre eigene Form finden, Unternehmen und Familie, wirtschaftliche Verantwortung
und individuelle Bedürfnisse zu vereinen. In die Fußstapfen des Vaters zu treten, das
bedeutete für sie, eigene neue Fußstapfen zu entwickeln: und die mussten weiblicher und
demokratischer sein und ihre verschiedenen Lebensanforderungen im Gleichgewicht
halten.
Wer sind “die Töchter”, die Frauen in der Führung?
Töchter, das sind Kinder in der Unternehmensnachfolge; oder Frauen im Familienbetrieb.
Oder Frauen in der Führung. Es ist alles zusammen – und zeitgleich sehr individuell.
Töchter in der Nachfolge, das klingt nach einer einheitlichen Gruppe, und doch sind die
Töchter so unterschiedlich wie “die Wiesenblumen” oder “die Wolken am Himmel”: Es gibt
sie in beinahe unendlicher Vielfalt. Gleichzeitig gibt es aber Erfahrungen, die alle Töchter
in der Nachfolge miteinander teilen:
ihre Mitgliedschaft zu einer Familie, die sie prägt, ihnen positive und negative
Vorbilder beschert – und die ihnen ein Leben lang eine ganz besondere
Verantwortung überträgt (im Unterschied zu angestellten Frauen in der Führung
eines Unternehmens);
die Erfahrung, dass das familieneigene Unternehmen ein ganz eigenes Leben führt
und quasi “ein Familienmitglied” der besonderen Art ist, auf das alle Rücksicht
nehmen müssen, seit dessen Gründung (im Unterschied zu Frauen, die sich als
Nachfolgerinnen in ein bestehendes Unternehmen einkaufen);
die Tatsache, dass der Wunsch nach einem eigenen Kind etwas bedeutet, dass
man nicht an den Partner übergeben oder mit ihm teilen kann: eine eigene
Schwangerschaft (im Unterschied zu Söhnen in der Nachfolge).
Nicht nur mit dem wirtschaftlichen Erbe, auch mit dem Erbe als Tochter in der Nachfolge
müssen diese Frauen ihren Weg suchen, denn sie tragen nicht nur für sich selbst und das
Fortbestehen der Firma, sondern auch für ihre Mitarbeitenden und deren Familien große
Verantwortung. Und natürlich für die Zulieferer, die Geschäftskunden, die Endabnehmer
ihrer Produkte …
Was machen Töchter; Frauen in Führung anders?
Töchter sind mit dem Familienunternehmen groß geworden. Egal, ob sie es gehasst oder
geliebt haben, sie sind emotional mit dem Unternehmen, mit dem Produkt und vor allem
mit den Mitarbeitenden verbunden. Das ist in Zeiten der Pandemie eine Chance für jedes
Unternehmen. Töchter interpretieren die Unternehmenszahlen menschlicher und
behandeln dann die Ursache anstelle der reinen Symptome.
Die Botschaft hinter der Zahl
Töchter erkennen oft Zusammenhänge, weil sie andere Blickweisen mitbringen.
Für Manuela P. zeigt sich deutlich: „Hinter der Krankheitsquote im Betrieb versteckt sich
zum Beispiel nicht einzig und allein ein Kostenblock, der dann kranke Mitarbeitende an
den Pranger stellt – bei mir im Unternehmen war es ein Hilferuf in Bezug auf ein
Führungsversagen, eine Überforderung in der Teamstruktur, die dazu geführt hat, dass
das Marketing nicht richtig funktioniert hat. Hätte ich das nicht gesehen, hätten wir ein
Produkt vom Markt genommen, das sich nun super verkauft.“
Menschen zusammenbringen, um Zukunft zu ermöglichen
Corona hat gezeigt, dass sich Unternehmensgeist in der Beweglichkeit im Umgang mit
Unvorhersehbarem zeigt. Die Stärken von Töchtern liegen genau in dieser Flexibilität,
gepaart mit Emotionalität, die nicht erst erlernt oder ausgeweitet werden muss.
Unternehmensstrukturen brechen derzeit zusammen, weil die Mitarbeitenden Ängste
haben und Unterstützung brauchen. Tatsächlich wissen wir es alle: Man kann sich nicht
grundsätzlich gegen etwas schützen, was nicht in der eigenen Hand liegt. Einfluss
nehmen kann man nur, wenn man Einfluss hat.
Und diesen Einfluss wissen Töchter zu handhaben: Sie haben keine Sorge davor, Probleme anzusprechen und temporär Großes aufzugeben zugunsten von Vernünftigem. Wenn das große Ganze zu viel und zu unwägbar ist, dann wird das Gesamtpaket in kleine Päckchen aufgeteilt.
Kein Unternehmen kann heute mit Gewissheit sagen, wie sich die Situation in Zukunft
entwickeln wird. Transparenz und Ehrlichkeit darüber helfen, mit dieser Unsicherheit
klarzukommen: zu benennen, welche Pläne man machen kann, sie klar zu datieren – und
deutlich zu machen, was man nicht festlegen kann. Mitarbeitende haben sehr
unterschiedliche Erfahrungswelten – Töchter sind eher bereit, die daraus resultierende
Vielfalt an Ideen aufzunehmen und zu prüfen. Und diese Ideen nicht als eigene
auszugeben, sondern den Mitarbeitenden zuzuschreiben. So eröffnen sie auch für die
Zukunft Anreize eines partizipativen Mitdenkens und einer gemeinschaftlichen
Zusammenarbeit.
Die Arbeitswelt der Zukunft wird bei Frauen in der Führung zur Arbeitswelt der Gegenwart
Zurück zum Anfang: Das Familienunternehmen von Johanna F. hat doch eine gute
Chance, auch in Zukunft in Familienhand zu bleiben, denn Johanna hat sich einiges
vorgenommen:
Flexiblere Arbeitszeitmodelle, auch für die Führung, sind nun gefragt. Ergänzend dazu
partizipativere Arbeitsformate durch Mitwirkung mehrerer statt der Kontrolle durch
Einzelne. Und dort, wo es möglich ist, Ortsunabhängigkeit von Arbeit. Vielleicht sogar
Führung im Tandem? Vieles ist möglich, wenn man es wagt. Auf jeden Fall braucht es
Mut, Neues auszuprobieren, vielleicht ein paar Fehler zu machen, aber dann aus diesen
zu lernen. Das sind auch für andere Töchter gute Ansätze, um die Übernahme eines
Familienunternehmens immer wahrscheinlicher zu machen. So lassen sich der Wunsch
nach Weiterführung der unternehmerischen Familientradition und der individuelle Wunsch
nach einem ernst zu nehmenden Familienleben aufs Beste vereinen – ohne Sieger und
Verlierer, sondern mit einem Zugewinn auch für das gesellschaftliche Miteinander.
Corona kann eine große Chance sein, damit Väter bewusst ihr Unternehmen an ihre
Töchter übergeben, und damit die Frauen dieses Angebot auch annehmen, um als
Familienunternehmen mutig in eine neue Zeit zu starten.
Die Zeit der Töchter ist gekommen!